Engel

Die Kirche von Junglinster und ihre Engel

von Francis Erasmy

„(Hundert)vierzehn Engel um mich stehn…“ 1

1 „Abends will ich schlafen gehn, vierzehn Engel um mich stehn …“ Traditionnelles Kindergebet, von Engelbert Humperdinck, als „Abendsegen“ vertont in der Oper Hänsel und Gretel, ca. 1891 – (Kapiteltitel)

In der Kunstgeschichte finden sich unendlich viele Darstellungen von Engeln. Die Kirche von Junglinster birgt dabei eine Vielfalt an Beispielen der verschiedensten Epochen und Ausführungen. Hundertvierzehn (114) Engel haben hier eine Heimat gefunden. Eine wahre Fülle, die in Luxemburg einzigartig sein dürfte. Wir finden sie gemalt auf Gemälden oder am Gewölbe, skulptiert auf Altären, Grabmälern, Predigtstuhl und Orgel. Mal sind sie farbig gefasst, mal in Stein oder in Holz geschnitzt. Einige sind klein, andere nur mit Kopf dargestellt. Manche entziehen sich gar unseren Augen und lassen sich nur auf den zweiten Blick durch fachkundige Hinweise entdecken.

Einleitende Bemerkungen

Die Engel (lat. angelus, von altgriechisch ἄγγελος, „Bote“) sind in der Bibel die Boten Gottes, Mittler zwischen Himmel und Erde, Werkzeuge der Ratschlüsse Gottes, Fürbitter und Diener. Als Kerubim und Serafim bewachen sie den Thron Gottes. Drei Engel werden in der Bibel sogar mit Namen genannt: Gabriel (Dan 8,16 und 9,21; Lk 1,26), Michael (Dan 10,13.21 und 12,1; Offb 12,7) und Raphael (Tob 12,15). Die Kirche feiert ihr Fest am 29. September. Für den Kirchenlehrer Ambrosius von Mailand ist die Welt „von Engeln erfüllt, Luft und Erde, Meer und Kirche, denen Engeln vorstehen“ (in Ps 118, Serm. 1,9). Die Verehrung der Engel gründet vor allem im Michaelskult, der ab dem 5. Jh. in Europa aufkommt. In der Stadt Luxemburg ist beispielsweise die älteste Kirche dem Erzengel Michael geweiht.

In den letzten Jahren erfreuen sich Engel wieder einer großen Beliebtheit. Lange fristeten sie im alltäglichen Leben – und auch in der Theologie – ein eher bescheidenes Dasein. Heute sind die Engel wieder ein Thema, nicht nur in zahlreichen Büchern, sondern eigentlich überall. Das geht vom „Kitschengel“ bis zur seriösen zeitgenössischen Kunst. Von Esoterik und Synkretismus bis zur wissenschaftlichen Fachliteratur. Dass Engel eine gewisse Zeitlosigkeit haben liegt sicher in ihrer von Raum und Zeit losgelösten Bestimmung. Ihrem Wesen nach sind sie zwar außerirdisch, jedoch menschenähnlich zugleich. Weder Definitionen noch Bilder können sie fassen. Sie sind so konkret und trotzdem unbegreiflich, so nahe und doch so fern… alles Bezeichnungen, die wir durchaus auch auf die unfassbare Größe Gottes anwenden können. So schreibt der Benediktinermönch Anselm Grün: „Die Vorstellungen, die wir mit ihnen (den Engeln) verbinden, sind kostbare Bilder, Imagination einer Sehnsucht nach einer anderen Welt der Geborgenheit und Leichtigkeit, der Schönheit und Hoffnung“ (Anselm Grün, Engel für das Leben, Freiburg 2001).

Engel des Himmels

Die unter Pfarrer Otto Johann Borrigs (1714-1783, Pfarrer in Junglinster von 1744-1783) errichtete Kirche erhielt kurz nach der Erbauung um 1774 Malereien von Ignaz Millim (1743-1820). Im Chorraum ist das ganze Gewölbe überspannt mit einer monumentalen Malerei, die die Wiederkunft Christi am Ende der Zeiten darstellt. Zahlreiche Gestalten des alten und des neuen Testamentes bevölkern den Himmel. Die vier großen Kirchenväter sind an den vier Ecken abgebildet.

Christus im Strahlenkranz ist von einem ganzen Heer von Engeln umrahmt (34, einige nur als Kopf), die anbetend, staunend und Blumen streuend dargestellt sind. Einige Engel blicken keck und neugierig aus den himmlischen Sphären hinab in unsere irdische Welt. Damit wird verdeutlicht, dass sich in dieser Kirche, bei den heiligen Handlungen am Altar, Himmel und Erde verbinden und unser Leben sich zum Unendlichen weitet.

Engel der Liebe

Der imposante Hauptaltar wurde 1786 unter Pfarrer Johann-Eberhard Krantz (1783-1789) angeschafft und stammt aus dem kurz vorher von Kaiser Joseph II. aufgehobenen adeligen Dominikanerinnenkloster von Marienthal im Eischtal. Er wurde um 1700 von Jan van den Steen (1633-1723) aus Mecheln (Flandern) geschaffen. Er besteht aus Holz und ist marmorartig gefasst. Etwas versteckt, links und rechts vom Tabernakel, befinden sich auf der Altarpredella zwei Reliefs mit Engeln, die sich küssen. Diese Darstellung mag überraschen, entspricht aber ganz der Lebensfreude des Barock und steht der im 19. Jh. folgenden Prüderie diametral gegenüber (welche in Junglinster so weit ging, dass man an den historischen Grabmälern die als anzüglich angesehenen Teile entfernte).

Vermutlich wollte der Künstler ausdrücken, dass die Liebe zum Zentralsten unseres Lebens und unseres Glaubens gehört und hat gerade deshalb die Engel der Liebe beim Opferaltar platziert. „Gott ist die Liebe“ definiert der 1. Johannesbrief (1 Joh 4,16) und der unermüdliche Missionar Paulus stellt fest, dass der Mensch ohne Liebe wie „dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke“ sei (1 Kor 13,1). Jesus selbst fasst es im sogenannten dreifachen Liebesgebot zusammen: Liebe Gott, den Nächsten und dich selbst (Mk 12,28-34).

Engel der Musik

Die Orgel wurde 1792 unter Pfarrer Carl Clemens Molitor (1789-1803) angeschafft und stammt, wie der Hauptaltar, die musizierenden Engel, die Hl. Cäcilia und der König David, aus dem Dominikanerinnenkloster Marienthal. Das Instrument wurde um 1600 von einem unbekannten Orgelbauer geschaffen.

Das Renaissance-Gehäuse, das älteste des Luxemburger Landes, wurde im 18. Jh. wahrscheinlich von Orgelbauer Jean Nollet (+1735 in Luxemburg) barockisiert, der auch die drei Engelsköpfe hinzufügte. Gemeinsam mit den Engeln, der Hl. Cäcilia und dem König David, setzt dieses Ensemble einen Gegenpol zum Hauptaltar. Die Engel, teilweise holzsichtig an der Emporen-Rückwand, spielen oder tragen die verschiedensten Instrumente: Geigen, Mandolinen, Pauken, Trompeten und Hörner.

Ein besonders schöner Engel trägt die Orgel der Hl. Cäcilia. Sie alle stimmen ein in die Musik des Chores und der Orgel, die in den Gottesdiensten zur Ehre Gottes und zur Freude der Menschen erklingt und uns so einen Vorgeschmack des Himmels bietet.

Engel der Stille

Den Blicken der Besucher entzogen, steht in der Sakristei der Engel der Stille. Er wurde, vermutlich wie der Schutzengel, unter Pfarrer Jean-Nicolas Krier (1878-1915) antiquarisch erworben. Pfarrer Krier war ein leidenschaftlicher Sammler und setzte all seine Kräfte ein, die Junglinster Kirche zu verschönern und in ihrer ganzen Pracht zur Geltung zu bringen.

Mit der einen Hand stützt sich der Engel auf ein Schild, das die 2009 von der Restauratorin Tilly Hoffelt freigelegte Inschrift trägt „Taces in Ecclesia“ (In der Kirche schweigst du). Mit der anderen Hand hält er den Zeigefinger vor die Lippen. Der Engel erinnert uns daran, dass die Stille notwendig ist, um Gott begegnen zu können. Alles Große braucht die Stille, um im Menschen geboren zu werden. Romano Guardini meint: „Nur im Schweigen vollzieht sich echte Erkenntnis“ (Anselm Grün, 50 Engel für das Jahr, Freiburg 1999).

Gerade heute in unserer von Lärm und Hektik geprägten Zeit erscheint die Mahnung dieses Engels besonders wertvoll.

Engel des Jugendstils

Für die Taufnische südlich vom Eingang wurde 1900 vom Maler Dominique Lang (1874-1919) eine Darstellung der Taufe Christi geschaffen. Lang stammte wie Pfarrer Krier ebenfalls aus Düdelingen. Das Gemälde – das größte je von ihm geschaffene – zeigt drei weibliche Engel die anmutig und nach Art des Jugendstils gekleidet sind. Sie betrachten die Taufe Jesu durch Johannes den Täufer und scheinen etwas unnahbar, fast skeptisch. Doch ganz teilnahmslos am Geschehen sind sie nicht, der mittlere Engel hält in seinen Händen das von Jesus abgelegte Obergewand.

Der Marienaltar links neben dem Triumphbogen wurde 1903 in der Werkstatt von Arnold Schüller-Singer in Trier aus weißem Marmor geschaffen. Ungewöhnlich, wohl auch der Zeit des Jugendstils geschuldet, liegen zwei Engel etwas lässig, gar lasziv, auf der Bekrönung des Altars. Ihre Anordnung macht sie zum Spiegelbild des gegenüberliegenden, freilich viel älteren Kreuzaltares von 1634.

Diese Engel der Jugend laden uns ein, mit einer gewissen Gelassenheit und dem nötigen Gottvertrauen unseren Lebensweg zu gehen.

Engel der Erinnerung

Die Kirche verfügt über eine außergewöhnliche Sammlung historischer Grabdenkmäler, die an die Herrschaft Linster erinnern (siehe Artikel von Alex Langini). Zwei Monumente sind noch aus der Spätgotik (links und rechts im Chor neben dem Hochaltar). Daneben gibt es schöne Beispiele aus der Renaissance und dem Barock. Vier Grabmäler haben Engelsdarstellungen, die ein Wappen tragen: das erste Denkmal südlich vom Portal, das Clemens von Orley (+ 1539) gewidmet ist, das Monument für Claudius von Orley (+ 1521) neben dem linken Durchgang zur Sakristei, das Grabmal für Francisca von Boland (+ 1539) neben dem Marienaltar, sowie das Denkmal für Elisabeth von Elter (+ 1540) an der Nordseite unter der Empore.

Der Kreuzaltar wurde 1634 von Johann Wilhelm von Metzenhausen gestiftet. Oben auf dem Gesims befinden sich zwei Engel, die elegant mit der einen Hand das Wappen halten und mit der anderen die Mittelnische berühren, die die Statue des heiligen Papstes Clemens umfasst.

Die Engel der Grabmäler und des Kreuzaltares erinnern an die jeweiligen Verstorbenen, respektive an die Stifter, deren Wappen sie tragen oder zeigen. Sie deuten darauf hin, dass bei Gott niemand vergessen ist. Alle Menschen, mit oder ohne Denkmal, sind in Gottes Hand eingeschrieben.

Engel der ewigen Anbetung

Den Tabernakel umgeben vier Engel in anbetender Haltung. Die großen Anbetungsengel, die eine Kerze halten und ehrfürchtig vor dem Allerheiligsten knien, wurden vermutlich 1749, zusammen mit dem Tabernakel, dem Hochaltar hinzugefügt. Sie sind weit weniger elegant als die anderen Engel, die aus Marienthal nach Junglinster kamen. Die zwei kleineren Engel, die auf dem Tabernakel sitzen und mit der Hand auf das Sanktissimum hinweisen, wurden der Kirche 2009 anlässlich der Restauration geschenkt. Sie sollen aus dem Umkreis der Gebrüder Johann Baptist und Dominikus Zimmermann stammen (die maßgeblich beteiligt waren am Bau der prächtigen Wieskirche bei Steingaden im Bistum Augsburg). Sie ersetzen auf wunderbare Weise die zwei Engel, die kurz nach der Restauration von 1974 gestohlen worden waren.

Die Kirche besitzt u.a. auch eine vom Pariser Goldschmied Thierry Marie (tätig 1853-1885) geschaffene Monstranz, die von einem Anbetungsengel getragen wird. Diese Engel der Anbetung deuten auf die Realpräsenz Jesu Christi hin und laden den Betrachter dazu ein, Christus im Allerheiligsten Sakrament als den wahrhaft Anwesenden zu verehren.

Engel der Verkündigung

Das eindrucksvolle Gemälde des Hauptaltars geht, wie der Altar von Jan van den Steen selbst, auf eine flämische Schule zurück. Beobachtet von einer Schar von Engeln, tritt der Erzengel Gabriel vor die im Gebet verharrende Maria, um ihr die bevorstehende Geburt ihres Sohnes anzukündigen. Der Evangelist Lukas lässt den Engel Gabriel sagen: „Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten. Deshalb wird auch das Kind heilig und Sohn Gottes genannt werden.“ (Lk 1,35) Der mit ausdrucksstarkem Gewand bekleidete Engel trägt eine Lilie (Symbol der Keuschheit) und zeigt mit der linken Hand nach oben zum Heiligen Geist, in Form einer Taube dargestellt, um Maria zu verdeutlichen, dass Gott der Vater des Kindes sein wird.

Dieser auf Gott, den Hl. Geist, hinweisenden Engel, kann auch uns ein wertvoller Mahner sein, dass wir nicht vergessen, den Blick gen Himmel zu richten und wie Maria die Botschaft Gottes aufzunehmen. Die erhobene Hand des Engels ist Hinweis darauf, dass der Mensch nicht das Maß aller Dinge ist.

Engel des letzten Gerichts

Der Posaunenengel auf dem mächtigen Schalldeckel der reich verzierten Rokokokanzel (Predigtstuhl) wird oft übersehen. Die Kanzel entstand genau wie die Kommunionbank, das Emporengeländer, die Bänke, die Beichtstühle und die Eingangstür in der Schreinerwerkstatt Calteux in Burglinster. Der Engel mit der Posaune ruft die Gläubigen zum letzten Gericht zusammen. Am Ende der Zeiten wird Christus kommen „zu richten die Lebenden und die Toten“ (Apostolisches Glaubensbekenntnis).

Der Engel ist eine Mahnung, auf Gott zu hören und Gutes zu tun. Wir sollten nicht warten bis es zu spät ist, denn wir wissen weder den Tag noch die Stunde der Wiederkunft Christi.

Engel der göttlichen Fürsorge

Eine anrührende Engelsdarstellung steht, wie der Engel der Stille, in der Sakristei, dem Blick des normalen Besuchers entzogen. Das passt jedoch sehr gut zu der Aufgabe, die der Schutzengel zu erfüllen hat. Auch wenn die Kirche am 2. Oktober den Gedenktag der Hl. Schutzengel feiert, wirken sie im Verborgenen und werden meistens vergessen. Im Katholischen Erwachsenenkatechismus heißt es: „Die Engel sind personale Gestalten des Schutzes und der Fürsorge Gottes für die Gläubigen.“ Der in vielen Kompositionen verarbeitete Psalm 91 (z.B. im Lied „Wer im Schutz des Höchsten wohnt“) begründet das Vertrauen und die Zuversicht in Gott: „Denn er befiehlt seinen Engeln, dich zu behüten auf all deinen Wegen.“

Dieser Engel erinnert uns daran, dass wir uns stets der fürsorgenden Liebe Gottes anvertrauen dürfen und nie vergessen sollten, unserem ganz persönlichen Schutzengel zu danken. Denn er hat uns schon auf vielerlei Weise vor manchem Unglück bewahrt.

Schlussfolgerung

Die beachtliche Zahl der verschiedenen Engelsdarstellungen ermöglicht es dem Besucher der Junglinster Kirche, sich der Gegenwart Gottes zu öffnen. Die Engel vergegenwärtigen die göttliche Botschaft, dass Gott Mensch geworden ist und uns in seiner Liebe und Fürsorge nahe sein will. Sie ermutigen uns darüber nachzudenken – um es mit Antoine de Saint-Exupéry2 zu sagen – dass das Wesentliche für unsere Augen unsichtbar bleibt.

2 « L’essentiel est invisible pour les yeux, on ne voit bien qu’avec le cœur. » Le Petit Prince, 1943